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Project Gutenberg's Herrn Dames Aufzeichnungen, by F. Gräfin zu Reventlow
This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
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Title: Herrn Dames Aufzeichnungen
Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil
Author: F. Gräfin zu Reventlow
Release Date: May 2, 2018 [EBook #57079]
Language: German
Character set encoding: UTF-8
*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HERRN DAMES AUFZEICHNUNGEN ***
Produced by Peter Becker and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This transcription
was produced from images generously made available by
Bayerische Staatsbibliothek / Bavarian State Library.)
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text
ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzte Passagen
sind ~so markiert~.
Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
Buches.
Herrn Dames Aufzeichnungen
Von _F. Gräfin zu Reventlow_
sind in unserem Verlag erschienen
_Ellen Olestjerne_, Roman
_Von Paul zu Pedro_, Amouresken
F. Gräfin zu Reventlow
Herrn Dames Aufzeichnungen
oder
Begebenheiten aus einem
merkwürdigen Stadtteil
Albert Langen, München
~Copyright 1913 by Albert Langen, Munich~
1
Verehrter Freund und Gönner!
Sie wissen ja -- Sie wissen genug darüber, wer »Wir« sind -- womit
wir uns unterhalten, und mit welchem Inhalt wir die uns zugemessenen
Erdentage zu erfüllen suchen. Sie wissen auch, wie wir das Dasein
je nachdem als ernste und schwerwiegende Sache -- als heiteren
Zeitvertreib, als absoluten Stumpfsinn oder auch als recht schlechten
Scherz hinzunehmen, aufzufassen und zu gestalten pflegen.
_Sie_ waren es, der von jeher das richtige Verständnis für unseren
Plural hatte -- für die große Vereinfachung und anderseits die
ungeheure Bereicherung des Lebens, die wir ihm verdanken. Wie armselig,
wie vereinzelt, wie prätentiös und peinlich unterstrichen steht das
erzählende oder erlebende »Ich« da -- wie reich und stark dagegen das
»Wir«.
_Wir_ können in dem, was um uns ist, irgendwie aufgehen, untergehen --
harmonisch damit verschmelzen. -- _Ich_ springt immer wieder heraus,
schnell wieder empor, wie die kleinen Teufel in Holzschachteln, die man
auf dem Jahrmarkt kauft. Immer strebt es nach Zusammenhängen -- und
findet sie nicht. -- _Wir_ brauchen keinen Zusammenhang, -- wir sind
selbst einer.
Die Sendung, die wir heute unserem Briefe beifügen, oder, richtiger,
der Inhalt eben dieser Sendung, ist wieder ein neuer Beweis dafür.
Denn dies alles, teurer Freund, den wir insgesamt gleich schätzen und
verehren, gilt nur als Vorrede einer Vorrede, die jetzt beginnen und
Ihnen zur Erläuterung beifolgender Dokumente dienen soll, -- das heißt
zur Erläuterung des Umstandes, daß wir eben diese Dokumente in Ihre
Hände legen und von Ihnen die Lösung manches Rätsels erhoffen.
Mit den Papieren hat es nun folgende Bewandtnis:
Es mag etwa dreiviertel Jahr her sein, daß wir gelegentlich einer
Seereise einen jungen Menschen kennen lernten. Wir fanden ihn sehr
liebenswürdig und unterhielten uns gerne mit ihm. Es dauerte allerdings
einige Zeit, bis es so weit kam, denn er war zu Anfang ungemein
zurückhaltend und schien schwere seelische Erschütterungen durchgemacht
zu haben -- aber davon später.
Der junge Mann hieß mit dem Nachnamen: Dame -- also Herr Dame -- dieser
Umstand mochte wohl einiges zu seiner reservierten Haltung beitragen
und gehörte zu den vielen Hemmungen, über die er sich beklagte. Wenn er
sich vorstellte oder vorstellen ließ, wurde er stets etwas unsicher
und fügte jedesmal hinzu: -- »Dame, ja -- ich heiße nämlich Dame«.
Wir fragten ihn einmal, weshalb er das täte -- der Name sei doch nicht
auffallender als viele andere, und er mache auf diese Weise eigentlich
die Leute selbst erst aufmerksam, daß sich eine Seltsamkeit, sozusagen
eine Art Naturspiel daraus konstruieren lasse.
Er entgegnete trübe: Ja, das wisse er wohl, aber er könne nicht anders,
und es gehöre nun einmal zu seiner Biographie. (Diese Bemerkung lernten
wir erst später bei der Lektüre seiner Aufzeichnungen verstehen.) Herr
Dame war seinem Äußeren und seinem Wesen nach durchaus der Typus:
junger Mann aus guter Familie und von sorgfältiger Erziehung, mit einer
Beimischung von mattem Lebemannstum -- sehr matt und sehr äußerlich.
Er wäre nie ohne einwandfreie Bügelfalte auf die Straße gegangen, auch
wenn ihm das Herz noch so weh tat -- und das Herz muß ihm wohl oft sehr
weh getan haben. Die Grundnote seines Wesens war überhaupt eine gewisse
betrübte Nachdenklichkeit oder nachdenkliche Trübsal, aber daneben
liebte er Parfüms und schöne Taschentücher.
Als wir ihn kennen lernten, war er schweigsam und verstört; allmählich,
besonders, wenn wir in den warmen Nächten an Deck saßen, ging ihm
immer das Herz auf, und er erzählte von sich selbst und von seiner
Biographie -- wie er längere Zeit unter eigentümlichen Menschen gelebt
und eigentümliche Dinge mitangesehen und auch miterlebt habe. Schon
von Haus aus habe er einen dunklen Trieb in sich gefühlt, das Leben
zu begreifen, und da habe man ihn an jene Menschen gewiesen. Leider
vergeblich, denn er konnte es nun erst recht nicht begreifen, sondern
sei völlig verwirrt geworden und eben jetzt auf dem Wege, in fernen
Ländern Heilung und Genesen zu suchen.
Den Ort, wo sich das alles begeben hat, wollte er nicht gerne näher
bezeichnen -- er sagte nur, es sei nicht eigentlich eine Stadt, sondern
vielmehr ein Stadtteil gewesen -- der auch in seinen Papieren oft und
viel genannt wird. Wir konnten uns das nicht recht vorstellen.
Er erzählte uns denn auch, daß er damals allerhand niedergeschrieben
habe, in der Absicht, vielleicht später einen Roman oder ein
Memoirenwerk daraus zu gestalten, und wir interessierten uns lebhaft
dafür.
So kam die Zeit heran, wo wir uns trennen mußten, denn die Reise ging
zu Ende. An einem der letzten Tage stieg Herr Dame müden Schrittes in
seine Kabine hinab und kam mit einem ansehnlichen Paket beschriebener
Hefte wieder, dann sagte er: wenn es uns Freude mache, sei er gerne
bereit, uns seine Aufzeichnungen zu überlassen. Er wolle sie auch nicht
wieder haben, denn das alles sei für ihn abgetan und läge hinter ihm,
und er habe wenig Platz in seinen Koffern. Was damit geschehe, sei ihm
ganz gleichgültig, wir möchten es je nachdem weitergeben, verschenken,
vernichten oder veröffentlichen. Er selbst würde schwerlich wieder
nach Europa oder gar in jenen Stadtteil zurückkehren. Dann nahmen wir
recht bewegt Abschied und wünschten ihm alles Gute. Es sollte leider
nicht in Erfüllung gehen, denn der Zug, mit dem er weiterfuhr, fiel
einer Katastrophe zum Opfer, und in der Liste der Geretteten war
sein Name nicht genannt, -- so ist wohl leider anzunehmen, daß er
mitverunglückte. Wir haben denn auch nichts mehr von ihm gehört.
* * * * *
Die Aufzeichnungen haben wir gelesen -- es war das erste, was wir damit
taten; aber, wie schon anfangs erwähnt, vieles darin ist uns ziemlich
dunkel geblieben. Nach unserer Ansicht handelt es sich, wie ja auch
Herr Dame selbst meinte, um recht eigentümliche Menschen, Begebnisse
und Anschauungen. -- Unter anderem interessiert es uns lebhaft, wo
jener Stadtteil zu finden ist, in dem sich das alles begeben. Wir
leben, wie Sie wissen, schon so lange in der Fremde, daß es viel zu
anstrengend wäre, die Kulturströmungen einzelner Stadtteile genauer zu
verfolgen.
Vor allem wünschen wir Ihre Ansicht darüber zu erfahren, ob die
vorliegenden Dokumente wohl die Bedeutung eines »~document humain~«
haben und sich zur Veröffentlichung eignen würden. Meinen Sie nicht
auch, daß es dann vielleicht ein schöner Akt der Pietät wäre, dem
anscheinend Frühverblichenen auf diese Weise einen Grabstein zu setzen?
Wenn Sie es für geboten erachten, würden wir Sie bitten, einen
Kommentar dazu zu schreiben -- uns fehlt leider die nötige
Sachkenntnis, und so haben wir uns auf einige bescheidene und mehr
sachliche Anmerkungen beschränkt -- aber vielleicht ist es auch
überflüssig.
* * * * *
Kurzum -- ja, wirklich kurzum, denn wir lieben die Kürze auch dann
noch, wenn wir ausführlich sein müssen -- lieben sie um so mehr, wenn
wir gerade ausführlich gewesen sind --, wir legen diese Papiere und
alles Weitere vertrauensvoll in Ihre Hände ...
Dezember
Langweilig -- diese Wintertage -- -- --
Ich habe nach Hause geschrieben und ein paar offizielle Besuche
gemacht. Man nahm mich überall liebenswürdig auf und stellte die
obligaten Fragen, -- wo ich wohne, wie ich mir mein Leben einzurichten
gedenke und was ich studiere. Der alte Hofrat schien es etwas
bedenklich zu finden, daß ich kein bestimmtes Studium ergreifen will
und so wenig fixierte Interessen habe, -- ich solle mich vorsehen,
nicht in schlechte Gesellschaft zu geraten. -- Das war sicher sehr
wohlgemeint, aber es fällt mir auf die Nerven, wenn die Leute glauben,
ich sei nur hier, um mir »die Hörner abzulaufen« und mich nebenbei auf
irgendeinen Beruf vorzubereiten.
Es war eine Erholung, nachher ~Dr.~ Gerhard im Café zu treffen. Ich
erzählte ihm von meinen Familienbesuchen, er räusperte sich ein paarmal
und sah mich prüfend an. Dann meinte er, das mit dem Hörnerablaufen
sei wohl eine veraltete studentische Schablone, aber es gäbe
neuerdings eine ganze Anzahl junger Leute, die sich »gärenshalber« hier
aufhielten, und zu diesen würde wohl auch ich zu rechnen sein.
Eine sonderbare Definition -- »gärenshalber« -- aber der Doktor drückt
sich gerne etwas gewunden aus -- das scheint überhaupt hier üblich zu
sein.
Wenn man darüber nachdenkt, hat er eigentlich nicht ganz unrecht.
Vielleicht ist etwas Wahres daran -- es kommt mir ganz plausibel vor,
daß mein Stiefvater mich gärenshalber hergeschickt hat. Nur paßt es
wohl gerade auf mich nicht recht. Ich habe keine Tendenzen zum Gären
und auch gar kein Verlangen danach -- überhaupt nicht viel eigne
Initiative -- ich werde einfach zu irgend etwas verurteilt, und das
geschieht dann mit mir. Mein Stiefvater meint es sehr gut und hat viel
Verständnis für meine Veranlagung; so pflege ich im großen und ganzen
auch immer zu tun, was er über mich verhängt.
Verhängt -- ja, das ist wohl das richtige Wort. Schon allein die
äußeren Umstände bringen es mit sich, daß immer alles eine Art
Verhängnis für mich wird. Zum Beispiel in erster Linie mein Name
und meine Väter. Meinen richtigen Vater habe ich kaum gekannt -- er
soll sehr unsympathisch gewesen sein -- und nur den Namen von ihm
bekommen. Mein Stiefvater hat einen normalen, unauffälligen Namen und
war eigentlich die erste Liebe meiner Mutter. Sie hätte ihn ebensogut
gleich heiraten können, und alles wäre vermieden worden. Es wurde
aber nicht vermieden, denn es war über mich verhängt, diesen Namen zu
bekommen und mein Leben lang mit ihm herumzulaufen.
Dame -- Herr Dame -- wie kann man Herr Dame heißen? so fragen die
anderen, und so habe ich selbst gefragt, bis ich die Antwort fand:
Ich bin eben dazu verurteilt, und der Name verurteilt mich weiter
zu allem möglichen -- zum Beispiel zu einer ganz bestimmten Art von
Lebensführung -- einem matten, neutralen Auftreten, das mich irgendwie
motiviert. Dissonanzen kann ich nun einmal nicht vertragen, und das
Matte, Neutrale liegt wohl auch in meiner Natur. Ich habe es nur
allmählich noch mehr herausgearbeitet und richtig betonen gelernt.
Über das alles habe ich mit ~Dr.~ Gerhard ausführlich gesprochen,
er schien es auch zu verstehen, und es interessierte ihn. Der
»Verurteilte« sei wohl ein Typus, meinte er, mit derselben Berechtigung
wie »der Verschwender«, »der Don Juan«, »der Abenteurer« und so weiter
als feststehende Typen betrachtet würden. Dann hat er gesagt, jeder
Mensch habe nun einmal seine Biographie, der er nachleben müsse. Es
käme nur darauf an, das richtig zu verstehen -- man müsse selbst
fühlen, was in die Biographie hineingehört und sich ihr anpaßt -- alles
andere solle man ja beiseite lassen oder vermeiden.
7. Dezember
Darüber habe ich dieser Tage viel nachgedacht. Heute hätte ich gerne
wieder ~Dr.~ Gerhard getroffen und das neuliche Gespräch mit ihm
fortgesetzt. Aber es saß diesmal eine ganze Gesellschaft mit am Tisch.
Unangenehm, daß man beim Vorstellen nie die Namen versteht -- das
heißt, meinen haben sie natürlich alle verstanden -- mein Verhängnis --
er ist so deutlich und bleibt haften, weil man sich über ihn wundert.
Ich habe diese junge Frau beneidet, die neben Gerhard saß, weil man sie
nur Susanna oder gnädige Frau anredete.
Du lieber Gott, ich werde ja nicht einmal heiraten können, wenn ich
gerne wollte. Wie könnte man einem Mädchen zumuten, Frau Dame zu
heißen -- --? Und dann daneben zu sitzen, das mitanzuhören und selbst
-- nein, diese Reihe von Unmöglichkeiten ist nicht auszudenken.
Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich dieser Susanna oder gnädigen Frau
-- wie ich sie natürlich anreden mußte, meine quälenden Vorstellungen
anvertraute. Sie hat nicht einmal gelacht -- doch -- sie hat schon
etwas gelacht, aber sie begriff auch die elende Tragik.
Es kam später noch ein Herr an den Tisch, den man mir als Doktor Sendt
vorstellte. Er ist Philosoph und macht einen äußerst intelligenten
Eindruck. Mir schien auch, daß er eine gewisse Sympathie für mich
fühlte.
Man hat sich dann sehr lebhaft unterhalten -- ich konnte manchmal
nicht recht folgen -- Doktor Sendt merkte es jedesmal, zog dann die
Augenbrauen in die Höhe, sah mich mit seinen scharfen hellblauen Augen
an und erklärte mir in klarer, pointierter Ausdrucksweise, um was es
sich handle.
Ich möchte gerne mehr mit ihm verkehren; mir ist, als könnte ich
viel von ihm lernen. Und eben das scheint mir hier eine zwingende
Notwendigkeit.
Zuletzt sprachen sie viel von einem literarischen Kreise, um den
es etwas ganz Besonderes sein muß. Dabei entspannen sich starke
Meinungsverschiedenheiten. Bei diesem Gespräch hörte ich nur zu, ich
mochte nicht immer wieder Fragen stellen, um so mehr, weil allerhand
Persönliches berührt wurde und ich nicht gerne indiskret erscheinen
wollte.
Übrigens genierte ich mich auch etwas, weil der Dichter, der den
Mittelpunkt jenes Kreises bilden soll, mir ziemlich unbekannt war.
Seinen Namen kannte ich wohl, aber von seinen Werken so gut wie nichts.
Da war ein junger Mensch mit etwas zu langen Haaren, auffallend hohem
Kragen und violetter Krawatte, die auf ungewöhnliche, aber immerhin
ganz geschmackvolle Art geschlungen war. (Frau Susanna stieß den
Philosophen an und raunte ihm zu, es sei wohl eine »kultliche«
Krawatte -- und der antwortete: Violett -- natürlich ist das kultlich.)
Dieser junge Mensch also bezeichnete ihn ausschließlich als den
Meister. Ich hatte bisher nur gehört, daß man in Bayreuth so redet, und
es befremdete mich ein wenig. Überhaupt redete er mit einem Pathos, das
mir im Kaffeehaus nicht ganz angebracht schien und sicher auch jenen
»Meister« unangenehm berühren würde, wenn er es zufällig hörte -- und
war sichtlich verstimmt über einige Bemerkungen der anderen Herren,
besonders des Philosophen, der sich etwas ironisch über Heldenverehrung
und Personenkultus äußerte.
Merkwürdige Dinge kamen da zur Sprache -- eine ältere Dame erzählte:
man (anscheinend Mitglieder jenes Kreises) wäre bei einer Art Wahrsager
-- einem sogenannten Psychometer -- gewesen, und es sei unbegreiflich,
wie dieser Mann durch bloßes Befühlen von Gegenständen den Charakter
und das Schicksal ihrer Besitzer zu erkennen wisse -- ja, bei
Verstorbenen sogar die Todesart.
»Es ist ganz ausgeschlossen,« so sagte sie, »daß er über irgend etwas
Persönliches im voraus orientiert sein konnte und -- --« »Aber Sie
müssen doch zugeben, daß er manchmal versagt,« fiel der Dichter mit
der violetten Krawatte ihr ins Wort -- -- »in bezug auf den Meister
hat er sich schwer geirrt. Und gerade das ist sehr interessant und
bedeutungsvoll, denn es zeigte deutlich, daß er die Substanz des
Meisters wohl fühlte, nicht aber beurteilen konnte -- --«
»Wieso?« fragte einer von den Herrn, der nicht dabei gewesen war. Der
Dichter maß ihn mit einem überlegenen Blick und wandte sich wieder an
die Dame, die zuerst gesprochen hatte:
»Sie haben es ja selbst gehört -- er bezeichnete sie als unecht und
theatralisch -- und weshalb -- weil er eben nicht ahnte, um wen es
sich hier handelt -- weil er sich die hier verwirklichte Größe aus
seinem engen Gesichtskreis heraus nicht vorstellen konnte. So half er
sich mit der These des Theatralischen darüber hinweg. -- Für _uns_ nur
wieder eine neue Bestätigung, wie wenige der Erkenntnis des einzig und
wahrhaft Großen würdig sind.«
Die Dame hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und hörte mit
leuchtendem Blick zu:
»Ja, ja, so ist's, wir fühlten es ja auch alle -- aber wie klar und
schön Sie es jetzt ausgelegt haben.«
»Es ist so klar, daß es kaum noch einer Auslegung bedurfte -- zudem
hatte der Meister den bewußten Ring erst seit einem Jahr getragen, und
seine Substanz war zweifellos noch mit fremden früheren Substanzen
gemischt -- das mußte die Beurteilung bedeutend erschweren.«
Darauf entstand eine Pause, und dann sagte die Dame sehr nachdenklich:
»Hören Sie, vielleicht liegt es noch einfacher -- ich habe diesen Mann
schon lange im Verdacht, daß er schwarze Magie treibt, und dann läge es
wohl nahe, daß er alles wirklich Große und Schöne hassen -- innerlich
ablehnen muß. Und wiederum -- daß der Meister nach jener Äußerung die
Gesellschaft verließ, beweist doch stärker wie alles andere, daß er
sich mit etwas Unlauterem in Berührung fühlte und sich dem entziehen
mußte.«
»O, ich glaube,« warf Sendt spöttisch ein, »auch wenn man ihm
von völlig lauterer Seite derartige Dinge sagte, würde er sich
zurückziehen.«
»Das soll wohl wieder eine von Ihren logischen Spitzfindigkeiten sein,«
erwiderte die Dame gereizt, »-- aber _die Sache_ trifft es nicht.
Allerdings hätte er sich mit vollem Recht zurückgezogen -- aber diese
Dinge sind überhaupt nicht wesenhaft und gehören nicht zur Mitte.«
»Warum beschäftigt man sich denn immer wieder mit ihnen? Ich meine, vor
kurzem noch gehört zu haben, daß die Beschränkung auf die weiße Magie
nicht gebilligt wurde?«
»Gegen die schwarze sind von jeher schwere Bedenken erhoben,«
antwortete die Dame etwas strafend.
»Besonders seit jener böse Magier die Substanz des Meisters so
verkannte,« bemerkte Sendt, während er ihr in den Mantel half, denn sie
hatte sich inzwischen erhoben, um zu gehen.
»Allerdings,« murmelte sie vor sich hin, und es klang sehr überzeugt.
Dann brach sie auf und mit ihr der größere Teil der Gesellschaft. Nur
Doktor Sendt und Susanna blieben noch.
Der Philosoph sah sie an, lächelte und sagte: »Mirobuk!« Ich hatte das
Wort noch nie gehört, und was es bedeuten sollte, war mir nicht klar,
aber Susanna lachte und sagte:
»Achten Sie nur darauf -- Herr -- Herr Dame, wenn Sendt Mirobuk sagt,
so hat es meistens eine gewisse Berechtigung.«
Ich faßte Mut und fragte, was denn um Gottes willen das mit der Magie
bedeute, die Dame sprach ja wie ein erfahrener alter Hexenmeister. --
Schwarze und weiße Magie -- was versteht man überhaupt darunter? Ich
dachte, so etwas käme nur in Märchenbüchern oder im Mittelalter vor.
»O nein,« sagte mir Sendt, »die Dame huldigt nur wie viele andere dem
Spiritismus, und Sie müssen wissen, daß dieser von seinen Anhängern
als _weiße_ Magie proklamiert wird, weil man sich nur an die guten
und sympathischen Geister wendet und mit ihnen Beziehungen anknüpft.
Die schwarze Magie aber beschäftigt sich gerne mit den Geistern von
Verbrechern und Bösewichtern, die sich noch nicht ganz von der Erde
befreit haben. -- Sie besitzen deshalb auch noch irdische Kräfte und
rächen sich gelegentlich an dem, der sie beherrscht. Und der Magier,
von dem hier die Rede war, hat sich eben so schlecht benommen, daß man
ihm alles mögliche zutraut und sich in Zukunft vor ihm hüten wird.«
Ich war ihm recht dankbar für diese Aufklärung, nur kam es mir
befremdlich vor -- nein, befremdlich ist nicht das rechte Wort -- aber
jener junge Mann und die Dame hatten eine so verwirrende Art sich
dunkel und geheimnisvoll auszudrücken und dabei, als ob von ganz realen
Dingen die Rede sei, daß ich selbst etwas unsicher geworden war. Wie
sie von dem Meister als von einem ganz übernatürlichen Wesen sprachen
-- von seinem Ring und seiner »Substanz« -- am Ende ist er auch ein
Magier -- ein Zauberer -- ein Nekromant oder dergleichen -- --
* * * * *
Ich war Susanna im Grunde recht dankbar, daß sie mich auslachte und
sagte, es sei leicht zu merken, daß ich mich noch nicht lange hier
aufhalte.
2
8. Dezember
Heute wollte ich nicht ins Café, aber ich ging doch hin und fand wieder
eine ungünstige Konstellation vor; der Philosoph saß mit der lebhaften
älteren Dame von neulich zusammen. Ich mochte nicht aufdringlich
erscheinen, so setzte ich mich an den Nebentisch, den einzigen, der
noch frei war, und las Zeitungen. Sie sprachen aber so laut, besonders
die Dame, daß ich nicht umhin konnte, zuzuhören, und hinter der Zeitung
mein Notizbuch vornahm, denn es schien mir wieder sehr bemerkenswert,
was sie da redeten. Die Dame erzählte von einem Professor Hofmann,
dessen Name neulich schon verschiedentlich erwähnt wurde -- er habe ihr
gesagt, sie sähe ausgesprochen »kappadozisch« aus.
Kappadozien kommt, so viel ich weiß, in der Bibel vor, aber ich begriff
nicht recht, wieso jemand »kappadozisch« aussehen kann, und warum sie
das mit solcher Wärme erzählte. Woher will man denn wissen, wie die
Kappadozier ausgesehen haben? Der Philosoph lächelte auch.
Nun kam einiges, was ich nicht recht verstand, und dann das, was ich
mir notiert habe.
»Nein, es sollten die Posaunen von Jericho sein -- hören Sie nur: sie
waren alle bei mir auf dem Atelier --«
»War er auch dabei?« fragte der Philosoph, und die Dame warf ihm einen
vorwurfsvollen Blick zu.
»Aber ich bitte Sie, wenn Sie spotten wollen --«
»Nein, nein, ich dachte nur -- aber bitte, fahren Sie fort.«
»Also der Professor, seine Frau und einige von den jungen Dichtern.
Einer von ihnen ging gleich an meinen Flügel, betrachtete ihn von allen
Seiten und sagte irgend etwas. Dann fragte die Frau Professor ihren
Mann:
›Wollen wir es jetzt sagen?‹, und er nickte. Dieses Nicken sehe ich
noch deutlich vor mir, aber ich kann es nicht beschreiben, es lag
etwas ganz Besonderes darin. Dann war plötzlich ein Paket da, es
wurde ausgewickelt, und ein Kästchen mit einem Schlauch daran kam zum
Vorschein -- es sah etwa aus wie ein photographischer Apparat. Und Frau
Hofmann sagte lebhaft, dieses Kästchen habe ein Freund ihres Mannes
aus dem Orient mitgebracht, es gäbe auf der ganzen Welt nur noch ein
ebensolches, und das gehöre dem Oberrabbi von Damaskus. Wenn man es an
ein Klavier anschraube, innerlich erhitze und dann hineinbliese, so
gäbe es genau denselben Ton, wie die Posaunen von Jericho.«
»Hatten Sie nicht Angst, daß auch bei Ihnen die Mauern einfallen
könnten?« fragte der Philosoph.
»Nein, von den Mauern war gar nicht die Rede -- ich weiß nur, daß ich
dann nach Spiritus suchte, um das Kästchen zu füllen, und ihn nicht
finden konnte, aber mit einem Mal war er doch da, und das Kästchen war
auch schon am Klavier angebracht. Der Professor blies in den Schlauch
und es gab einen dumpfen Ton -- aber dann muß der Spiritus ausgelaufen
sein, und plötzlich stand alles in Flammen. Niemand kümmerte sich
darum, und ich dachte an meinen Perserteppich, der unter dem Flügel
liegt. Sie wissen ja, ich bin etwas eigen mit meinen Sachen. Aber der
Professor sagte, es sei gar kein Perser, es sei ein ›Beludschistan‹,
und er habe keine Beziehung zum Wesen der Dinge, -- ist das nicht
merkwürdig? Ja, und nun kam noch etwas ganz Triviales, ich meinte, der
Flügel würde sicher auch anbrennen, und in diesem Moment stand der
Professor in seiner ganzen Größe vor mir und sagte:
›Wenn Fräulein H... mir ihren Verlust genau beziffert, soll alles
ersetzt werden.‹«
»Und dann?« fragte der Philosoph.
»Das weiß ich selbst nicht mehr, es war ganz verschwommen, -- aber
sagen Sie selbst, liebster Doktor, ist es nicht wirklich seltsam?
Meinen Sie nicht, daß es kosmische Bedeutung hat?«
Damit brach das Gespräch ab, denn Gerhard kam, und die Dame ging bald
darauf fort. Ich setzte mich zu ihnen und fragte Sendt, was denn das
für eine rätselhafte Geschichte sei, ich hätte leider nicht vermeiden
können, sie mitanzuhören. Und jetzt zweifelte ich nicht mehr daran, daß
man hierzulande Zauberei treibt.
»Haben Sie denn nicht gemerkt, daß die Dame mir einen Traum erzählte?«
»Nein -- darauf bin ich gar nicht gekommen.«
»Lieber Dame,« sagte Gerhard, und es klang beinah wehmütig -- er hat
überhaupt immer etwas Schmerzliches im Ton -- »Sie machen Fortschritte.
Schon können Sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Das
geht uns allen hier wohl manchmal so -- nicht wahr, ~cher philosophe~?«
»Traum oder nicht Traum,« antwortete der Philosoph nervös, »was sie mir
da auftischte, war wieder einmal eine Wahnmochingerei, wie sie im Buch
steht.«
»Wahnmochingerei -- was ist das?«
»Nun, was Sie da eben mitangehört haben.«
Doktor Gerhard wollte wissen, was für ein Traum es gewesen sei.
»Natürlich ein kosmischer,« sagte der Philosoph, »sie hoffte es
wenigstens und wollte von mir wissen, ob es stimmt. Sonst traut sie
sich nicht ihn bei Hofmanns zu erzählen.«
Ich hätte gerne noch gewußt, was eine »Wahnmochingerei« ist und
»kosmische Träume«. -- Aber der Philosoph schien mir nicht gut
aufgelegt, und ich kann doch nicht immer fragen und fragen wie ein
vierjähriges Kind.
3
14. Dezember
Ein komischer Zufall, daß ich Heinz Kellermann hier treffe. Wir haben
uns seit dem Gymnasium nicht mehr gesehen. Er behauptet zwar, es gebe
nichts Zufälliges, sondern was wir Zufall nennen und als solchen
empfinden, sei gerade das Gegenteil davon, nämlich ein durch innere
Notwendigkeit bedingtes Geschehen. Man sei nur im allgemeinen zu blind,
um diese inneren Notwendigkeiten zu sehen.
Trotzdem schien er ebenso verwundert wie ich und fragte mit der
gedehnten und erstaunten Betonung, die ich so gut an ihm kannte:
»Wie kommst _du_ denn hierher?«
Ich konnte diese Frage nur zurückgeben, und dann sagte er etwas
überlegen: O, man könne nur hier leben und hier lerne man wirklich
verstehen, was Leben überhaupt bedeute. Ich habe ihm erzählt, daß
das auch mein sehnlichster Wunsch sei, und wie ich mich mit meiner
Biographie herumquäle -- na Gott ja, -- daß ich eben ein Verurteilter
bin und nicht recht weiß, was ich mit mir und dem Leben anfangen soll.
Daraufhin ist er gleich viel wärmer geworden und lud mich für den Abend
in seine Wohnung ein, -- es kämen noch einige Freunde von ihm, auf die
er mich sehr neugierig machte.
Ich ging hin, und es war auch wirklich der Mühe wert. Aber ich werde
jetzt wieder ein paar Tage daheim bleiben und mich sammeln. Es sind zu
viel neue und verwirrende Eindrücke von allen Seiten. Wohin ich komme
und wen ich kennen lerne -- alles ist so seltsam, wie in einer ganz
anderen Welt, und ich tappe noch so unsicher darin herum. -- Ob das nun
Zufall ist oder innere Notwendigkeit, daß ich hierher kam und gerade
diese Menschen kennen lerne? Aber es lockt mich, ich kann dem allen
nicht mehr entfliehen -- ich bin wohl dazu verurteilt, und der Gedanke
gibt mir meine innere Ruhe etwas wieder.
Doktor Gerhard rät mir ja immer wieder, ich solle etwas schreiben
-- jeder Mensch habe einiges zu sagen und müsse, was er erlebt, in
irgendeiner Form nach außen hin gestalten. -- Wenn es auch nur wäre, um
meinem Stiefvater Vergnügen zu machen, er hat ja schon immer gemeint,
ich hätte ein gewisses Talent dazu. -- Und er ist gewiß aufrichtig,
denn er hält sonst nicht übermäßig viel von meiner Begabung.
Ich weiß nicht recht -- einstweilen mache ich mir Aufzeichnungen und
Notizen, besonders wenn ich mit dem Philosophen zusammen bin.
* * * * *
Da war der Abend mit Heinz Kellermann und seinen Freunden. Der eine
mit dem scharfen Gesicht sah fast wie ein Indianer aus. Als ich das
sagte, wurde Heinz ganz ärgerlich und behauptete, er sei doch blond,
dunkelblond wenigstens und ein absolut germanischer Typus. Es gab eine
förmliche Diskussion darüber, aus der ich entnahm, daß sie die blonden
Menschen mehr ästimieren als die dunklen, und daß das irgendeine
besondere Bedeutung hat.
Es war auch ein junges Mädchen dabei -- eine Malerin --, das übrigens
ausgesprochen schwarzes Haar hatte, aber ich wagte keine Bemerkung
darüber, denn mir schien, daß sie der Unterhaltung etwas deprimiert
zuhörte, und ich muß gestehen, ich freute mich zum erstenmal darüber,
daß ich blond bin.
Im ganzen hatte ich aber wieder das Gefühl, nicht recht mitzukönnen.
Ich weiß nicht, ob man diese Ausdrucksweise eigentlich »geschraubt«
nennen kann, aber sie kommt einem manchmal so vor, und man muß sich
erst daran gewöhnen.
Was meinen sie zum Beispiel damit: man müsse einen Menschen erst
»erleben«, um ihn zu verstehen?
Heinz machte manchmal ganz treffende Bemerkungen -- das kann er
überhaupt sehr gut --, und dann hieß es:
»Heinz, Sie sind enorm.«
Nach dem Tee setzte man sich auf den Boden, das heißt auf Teppiche und
Kissen. Heinz machte die Lampe aus und zündete in einer Kupferschale
Spiritus an -- warum auch nicht --, es gab eine schöne blaugrünliche
Flamme. Aber dann stand die Malerin auf und hielt ihre Hände darüber,
man sah nur die schwarze Gestalt und die Hände über der Spiritusflamme,
die in dieser Beleuchtung ganz grünlich aussahen.
Und nun waren alle ganz begeistert und sagten wieder, das sei »enorm«.
Um auch irgend etwas zu sagen und mich gegen das junge Mädchen höflich
zu zeigen, meinte ich, dieses offene Feuer in der Schale habe etwas von
einem alt-heidnischen Brauch. Das war nur so hingesagt, weil mir nichts
anderes einfiel, aber sie sahen sich bedeutungsvoll an, als ob ich
einen großen Ausspruch getan hätte, und Heinz sagte zu dem Indianer:
»Sehen Sie -- und er weiß gar nicht, was er damit gesagt hat.« -- »Das
ist es ja gerade,« antwortete der, »er muß das Heidnische ganz unbewußt
erlebt haben.«
Ich wollte fragen, was er meinte, da klingelte es, und dann kam der
Professor Hofmann -- der mit dem Kreis -- der aus dem Traum -- ich
dachte mir gleich, daß er es wäre. Er war ungemein gesprächig und
liebenswürdig, bewunderte das Feuer in der Schale und nannte es
fabelhaft, ebenso die grünlichen Hände der Malerin und sagte, es sei
ganz unglaublich schön, wie sie dastände. -- Ich mußte dabei an die
Geschichte neulich im Café denken -- die »Wahnmochingerei«, wie der
Philosoph es nannte.
Dann ging die Flamme aus, und die Lampe wurde wieder angezündet.
Da niemand an Vorstellen zu denken schien, tat ich es selbst. Der
Professor sah mich plötzlich verwirrt und ganz entgeistert an, ich
dachte, er hätte mich nicht verstanden, wiederholte meinen Namen und
setzte hinzu:
»Ich heiße nämlich Dame.«
Er schüttelte mir nun mit großer Lebhaftigkeit die Hand und sagte, es
freue ihn unendlich, mich kennen zu lernen.
Dann unterhielt man sich über dieses und jenes. Der Professor ging
dabei mit etwas stürmischen Schritten auf und ab, nahm jeden Augenblick
einen Gegenstand in die Hand, betrachtete ihn ganz genau und stellte
ihn wieder hin. Im Laufe des Gespräches fragte er mich, ob ich auch in
»Wahnmoching« wohnte. Ich fragte wieso und hielt es für einen Witz --
»ich wohne in der K...straße«. Darüber brachen sie alle in Gelächter
aus und fanden es enorm, daß ich nicht wüßte, was »Wahnmoching« sei.
Man erklärte mir, daß der ganze Stadtteil von dem großen Tor an so
heiße. Wie sollte ich das wissen, ich habe mich gar nicht darum
gekümmert, wie der Stadtteil heißt, in dem ich _wohne_. In Berlin weiß
man es, aber hier doch nicht. Ich begriff wirklich nicht, was daran
»enorm« sein sollte. Ja, sagten sie, das sei es ja eben, -- ich wäre in
allem so unbewußt.
Sonst bin ich wirklich ein geduldiger Mensch, aber ich hatte allmählich
den Eindruck, als ob man mich mystifizieren wollte, und sagte, den
Ausdruck »Wahnmochingerei« hätte ich schon gehört. Der Professor wurde
stutzig und fragte, von wem denn?
»Von Doktor Sendt, dem Philosophen.«
»Ah -- Sie kennen Doktor Sendt?« es klang beinah, als ob ihn das
verstimmte. Aber dann wurde er wieder sehr herzlich und lud mich ein,
ihn zu besuchen und zu seinem Jour zu kommen.
den 18. ...
Nachts um ein Uhr den Philosophen auf der Straße getroffen -- wir gehen
noch lange auf und ab, ich erzähle ihm von dem Abend bei Heinz und
bitte um einige Aufklärungen.
Warum es »enorm« ist, wenn man Spiritus in Kupferschalen verbrennt und
jemand die Hände darüber hält -- ich kann immer noch nicht vergessen,
wie grünlich das ganze Mädchen aussah --, warum geraten sie darüber in
solches Entzücken? oder wenn man von einem heidnischen Brauch spricht?
»Junger Mann,« sagt Sendt, »enorm ist einfach ein Superlativ, der
Superlativ aller Superlative. Sie werden überhaupt mit der Zeit
bemerken, daß man unter echten Wahnmochingern einen ganz besonderen
Jargon redet, und Sie müssen lernen, diesen Jargon zu beherrschen,
sonst kommen Sie nicht mit. Man sagt beispielsweise nicht ein Ding,
eine Sache, eine Frau sei schön, reizend, anmutig -- sondern sie ist
fabelhaft, unglaublich -- enorm. Das heißt -- enorm wird mehr in
übertragener Bedeutung angewandt und bedeutet den höchsten Grad der
Vollendung. Speziell in dem Kreise, dem Ihr Freund Heinz angehört.«
»Schon wieder ein Kreis?« -- frage ich.
»Ja, aber die Kreise berühren sich, -- dieser besteht nur aus wenigen
und dreht sich etwas anders. Man beschäftigt sich dort damit, den
Spuren des alten Heidentums nachzugehen -- daher die Freude über Ihre
harmlose Bemerkung. Und das grünliche Mädchen hatte wohl irgendeine
symbolische Bedeutung.«
Der Philosoph hielt plötzlich inne -- hinter uns klangen rasche
Schritte, und es kamen ein paar Herren an uns vorbei. Zwei von ihnen
waren indifferent aussehende junge Leute -- der dritte, der zwischen
ihnen ging, ein knapp mittelgroßer Mann mit niedrigem schwarzem Hut und
einem dunklen Mantel, den er wie eine Art Toga umgeschlagen hatte, --
man konnte ihn auf den ersten Blick fast für einen Geistlichen halten.
Er schien über irgend etwas sehr erregt und sprach eifrig auf seine
Begleiter ein, -- in einem ganz eigentümlichen, monoton singenden
Tonfall. Gerade als sie uns überholten, hörten wir ihn sagen:
»Ja -- bis vor drei Jahren konnte man sie noch für zwei Mark auf jeder
Dult finden -- aber jetzt haben die Juden alle aufgekauft, und unter
zehn Mark sind überhaupt keine mehr zu haben.«
Gegen Ende des Satzes ging seine Stimme allmählich mehr in die Höhe,
und zum Schluß kam ein kurzes, schrilles Auflachen. Als er uns sah,
machte er eine halbe Wendung seitwärts und grüßte den Philosophen.
Deutlich sah ich in diesem Moment sein breites, glattrasiertes Gesicht
mit auffallend hellen, leuchtenden Augen, das aber trotzdem etwas
absolut Unbewegliches, beinah Starres hatte. Beim Grüßen verzog er den
Mund zu einem äußerst konventionellen Lächeln, in der nächsten Sekunde
aber nahm er wieder einen steinernen und völlig ablehnenden Ausdruck an
und ging rasch mit kurzen, eiligen Schritten seines Weges.
Der Philosoph schien sich an dieser Begegnung und der aufgefangenen
Bemerkung ungemein zu freuen:
»~Lupus in fabula~,« sagte er -- »Sie haben wirklich Glück, Herr Dame
-- dieser Herr, der mich eben grüßte, ist -- nun man könnte ihn wohl
den geistigen Vater des Wahnmochinger Heidentums nennen -- nein, nein
-- das ist in diesem Falle nicht richtig -- er würde es sehr übel
nehmen, wenn man ihn als Vater von irgend etwas bezeichnen wollte --
denn gerade er ist der Hauptverfechter des matriarchalischen Prinzips.«
»Liebster Philosoph,« bat ich, »nun wird es mir schon wieder zu hoch.«
Übrigens dachte ich mir gleich, daß jener Herr ein gewisser Delius sein
müßte, von dem Heinz mir viel erzählte.
Ja, es stimmte, und ich fand, es sei wirklich wieder ein sonderbares
Spiel des Zufalls, daß wir ihm gerade bei diesem Gespräch begegneten,
aber Sendt sagte, man träfe ihn sehr oft um diese Stunde, er liebe die
Nacht und alles Dunkle.
»Dieser Delius -- nun, er ist wohl eine sonderbare Erscheinung,« fuhr
er dann fort, »die heutige Zeit, auf die wir alle mehr oder minder
angewiesen sind, gilt ihm nichts, er ignoriert sie oder begegnet ihr
wenigstens nur rein konventionell -- etwa so, wie er mich vorhin
grüßte. Sein eigentliches Leben spielt sich in längst versunkenen
Daseinsformen ab -- mit denen er sich und andere identifiziert. --
Passen Sie einmal gut auf, Herr Dame -- wissen Sie ungefähr, was man
sich unter Seelensubstanzen vorzustellen hat?«
Ich sagte, daß ich es mir wohl vorstellen könnte -- es war ja neulich
im Café schon davon die Rede.
»Schön -- also Delius denkt sich nun diese Seelensubstanzen von den
ältesten Zeiten her wie Gesteinschichten übereinander gelagert, etwa
zuunterst die der alten Ägypter, Babylonier, Perser -- dann die der
Griechen, Römer, Germanen und so weiter. Man nennt das biotische
Schichten. -- Seit der Völkerwanderung, meint er nun, habe sich alles
verschoben, die Substanzen sind durcheinandergemischt und dadurch
verdorben worden. Infolgedessen wirken bei den jetzigen Menschen lauter
verschiedene Elemente gegeneinander, und es kommt nichts Gutes dabei
heraus. Nur bei wenigen (und das sind natürlich die Auserlesenen) hat
sich eine oder die andere Substanz in überwiegendem Maße erhalten --
zum Beispiel bei ihm selbst die römische -- er fühlt und empfindet
durchaus als antiker Römer und würde Sie höchst befremdet anschauen,
wenn Sie ihm sagten, er lebe doch im zwanzigsten Jahrhundert und sei
in der Pfalz geboren. Denn seine Substanz ist eben römisch. Bei Heinz
Kellermann und dessen Freunden dagegen herrscht die altgermanische vor,
-- daher auch die stark betonte Vorliebe für Blonde und Langschädel.«
»Aber lieber Doktor, sagen Sie mir nur noch das eine: -- was hat das
alles damit zu tun, daß dieser Stadtteil Wahnmoching heißt?«
»Herr Dame -- denn Sie heißen ja wirklich so,« sagte der Philosoph,
und ich konnte es ihm in diesem Augenblick nicht übelnehmen --
»Wahnmoching heißt wohl ein Stadtteil -- eben dieser Stadtteil, aber
das ist nur ein zufälliger Umstand. Er könnte auch anders heißen oder
umgetauft werden, -- Wahnmoching würde dennoch Wahnmoching bleiben.
Wahnmoching im bildlichen Sinne geht weit über den Rahmen eines
Stadtteils hinaus. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Niveau,
eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch,
aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen
-- Wahnmoching ist noch vieles, vieles andere, und das werden Sie
erst allmählich begreifen lernen. -- Aber für heute sei es des Guten
genug, sonst möchte noch die aufgehende Sonne uns hier im Zwiegespräch
überraschen.«
Damit trennten wir uns.
4
20. ...
Mir fehlte etwas der Mut, zu diesem Jour zu gehen, aber Doktor Gerhard
nahm mich mit. Ziemlich viele Leute, die sich in mehreren Räumen
verteilten, die Frau des Hauses an einem gemütlichen Eckplatz hinter
der Teemaschine, um die herum eine Anzahl junger Leute und Damen. Als
wir eintraten, schwieg alles ein paar Minuten lang, -- ich merkte
später, daß es jedesmal so war, wenn jemand Neues kam. Gerhard stellte
mich vor und fügte statt meiner hinzu:
»Gnädige Frau, mein junger Freund heißt nämlich so.«
Frau Hofmann empfing mich sehr liebenswürdig -- ihr Mann habe ihr schon
von mir erzählt. Dann wandte sie sich an die anderen:
»Denken Sie nur, Herr Dame wußte bis vor kurzem nicht, daß er in
Wahnmoching wohnte.«
Man betrachtete mich, wie mir schien, mit verwundertem Wohlgefallen,
und ich war durch diese Bemerkung gewissermaßen eingeführt. Ich
langweilte mich etwas, denn da ich niemand kannte, mußte ich vorläufig
auf meinem Platz sitzen bleiben und Tee trinken. Gerhard machte vor
einem jungen Mädchen halt -- neben ihr auf einem Tischchen stand ein
grüner Frosch aus Porzellan oder Majolika -- und sagte etwas wehmütig:
»Gnädiges Fräulein -- Sie sollten eigentlich immer einen grünen Frosch
neben sich sitzen haben.«
Dann ging er weiter von einer Gruppe zur anderen und sagte
wahrscheinlich ähnliche Dinge, denn wo er hinkam, wurde es gleich etwas
belebter.
Ich beneidete ihn im stillen um diese Gabe, denn ich konnte mich nicht
recht in die Konversation hineinfinden.
Es war die Rede von Menschen im allgemeinen, von ihrem Wesen, und
worauf es dabei ankäme. Der Professor sagte etwas überstürzt und
definitiv:
»Auf die Geste kommt es an.« -- Die jungen Herren, es waren zwei oder
drei -- nickten bedeutungsvoll zustimmend, und die ältere Dame aus dem
Café -- die kappadozische -- die ich gleich wiedererkannt hatte --
sagte lebhaft:
»Ich hätte gedacht -- in erster Linie auf die Echtheit des Empfindens.«
»Empfinden ist immer echt,« bemerkte Hofmann wieder sehr definitiv, so
daß man nicht anders konnte als ihm beistimmen. Aber Gerhard, der jetzt
wieder neben dem Tisch stand und ein Bild betrachtete, warf milde ein:
»Nun, das kann man doch nicht so ohne weiteres hinstellen, -- es gibt
wohl auch leere und bedeutungslose Gesten, die durch das Empfinden
nicht gerechtfertigt werden. Und ich meine, man darf nicht so
schlechthin von _der Geste_ sprechen.«
Worauf die Frau des Hauses förmlich triumphierend meinte:
»Nun, worauf es ankommt, ist eben der Stil.«
»Gewiß, aber nicht jeder,« korrigierte ihr Mann und sah etwas beleidigt
aus. -- »Die Geste ist überhaupt die geistleibliche Urform alles
Lebens, und der Rhythmus der Geste ist der Stil.«
Die anderen hörten ganz begeistert zu, und die Kappadozische äußerte:
»Das haben Sie wieder ganz wunderbar gesagt.«
Gerhard räusperte sich ein paarmal, als ob er nicht ganz einverstanden
wäre, dann brach er auf, und ich schloß mich ihm an. Zum Herrn des
Hauses sagte er noch:
»Lieber Professor, ich hoffe, mein junger Freund wird noch öfter
Gelegenheit finden, mit Ihnen zusammenzukommen.«
Der Professor schüttelte mir wiederholt die Hand und sah mich ganz
zerstreut an. Als wir hinausgingen, sagte er halblaut zu Gerhard:
»Ihr Freund ist ein wundervoller Mensch.«
Warum wohl -- ich hatte den ganzen Abend kaum zehn Worte gesagt und
das meiste, was sie sprachen, nicht verstanden, zudem, wie Gerhard mir
nachher sagte, einen schweren Fauxpas begangen, indem ich der Frau
Professor sagte: ich sei sehr begierig, den Meister kennen zu lernen.
-- So etwas dürfe man nicht tun, -- es wäre eine Art Gotteslästerung.
Er pflege sich im dritten Zimmer aufzuhalten, und nur, wer würdig
befunden sei, würde ihm vorgestellt; zum Beispiel jener verklärte
Jüngling, der vorhin leise mit der Hausfrau sprach und dann plötzlich
verschwand. -- Das gehöre eben auch zur »Geste«.
* * * * *
Geste -- Geste -- was soll man darunter verstehen -- wie war es noch?
-- die geistleibliche Urform alles Lebens. Hier wird ja überhaupt so
viel vom »Leben« gesprochen, und immer so, als ob es durchaus nichts
Selbstverständliches wäre, sondern gerade das Gegenteil. Aber gerade
darin liegt wohl etwas, was reizt und anzieht -- ich möchte ja selbst
endlich einmal dahinter kommen, was es eigentlich mit dem Leben auf
sich hat -- ob es etwas ganz Selbstverständliches oder etwas ungeheuer
Kompliziertes ist.
Heinz zum Beispiel tut ja, als ob er hier in diesem sonderbaren
Stadtteil den Stein der Weisen gefunden hätte. Und mir ist, seit ich
hier bin, zumut, als ob ich nur in Rätseln sprechen höre und mich
zwischen lauter Rätseln bewege. Ich fühle mich ziemlich unglücklich,
und in meinem Kopf ist es wirr und dunkel.
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
_Anmerkung_
Hier sind mehrere Seiten herausgerissen, und statt
dessen findet sich eine Anzahl fast unleserlicher
Zettel mit Bleistiftnotizen. Dann folgt quer über die
Seiten hingeschrieben ein Eintrag von Frauenhand:
-- ich habe dieses Heft -- Ihr Tagebuch, wie es scheint, offen
auf dem Tisch gefunden und war so indiskret, etwas darin zu
lesen. -- Ja, Sie sind entschieden ein »wundervoller Mensch«.
Chamotte hat mich hereingelassen -- sicher hat er es auch
gelesen, denn er ist beunruhigt um Sie und beklagt sich, daß
Sie in der letzten Zeit so sonderbar wären. -- Ich habe es auch
gemerkt und fange an es zu begreifen. Aber -- du wirst mit
deinem Singen -- doch nicht zum Himmel dringen.
Gehen Sie deshalb lieber nicht wieder zum Jour, sondern kommen
Sie morgen mit mir auf die Elenden-Kirchweih. (Das ist ein
Fest.) -- ~Tout~ -- Wahnmoching wird sicher auch dort sein.
Halt -- ich kann mich im Moment nicht besinnen, ob Sie einen
Schnurrbart haben -- ich glaube, nein, er paßt entschieden
nicht zu Ihrer Biographie. Aber wenn ja, so lassen Sie ihn
vorher beseitigen -- er geht nicht zum Kostüm.
Also 7 Uhr abends im Eckhaus. (Chamotte weiß den Weg) --
dreimal klingeln -- --
Susanna.
Ach, diese Frau -- es ist wirklich nicht ganz diskret, in meinen
Sachen zu stöbern, wenn ich nicht zu Hause bin, und mir da mitten
hineinzuschreiben. Ich bin so ordentlich, daß es an Pedanterie grenzt,
und so etwas stört mich.
Ich habe Chamotte zur Rede gestellt -- Chamotte ist mein kleiner
Diener. Susanna hat ihn so getauft, weil sie seinen Namen nicht
behalten konnte und fand, er sähe aus, als ob er Chamotte hieße. Er
fühlte sich dadurch geehrt, er schwärmt für Susanna und verteidigt sich
-- na, es ist eine Schande --, aber er macht mir alles nach, und wenn
mir etwas nicht paßt, behauptet er einfach, er wäre dazu verurteilt
gewesen, es so zu machen. Aber der Bengel ist erst sechzehn Jahre alt
und wird dabei nie unverschämt. Und mir tut es manchmal wohl, so eine
Art zweites Ich zu haben, das intelligent und bescheiden auf das erste
reagiert -- und das man hinausschicken kann, wenn man will.
Chamotte spricht jetzt auch von »unserer« Biographie und findet, wir
müssen unbedingt zu dem Fest gehen, ich soll ihn als meinen Sklaven
mitnehmen, -- das hat Susanna ihm heute früh in den Kopf gesetzt.